Jeannine Budelmann
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Weniger Wachstum?
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Weniger Wachstum?

Erschienen im Wirtschafts Kurier 2. Quartal 2021.

Die Kirschen sind reif. Saftig und dunkelrot locken sie von ganz oben im Baum. Mit „low hanging fruits“ geben wir uns nicht zufrieden. Also: Wo steht die Leiter? Ab in den Baum! Die schönste, süßeste Kirsche wartet natürlich ganz, ganz oben (das medizinische Personal in Notaufnahmen kann ein Lied davon singen). Warum streben wir stets nach Höherem? Und auf die Wirtschaft übertragen: Muss es in Unternehmen immer um Wachstum gehen? Wäre es nicht besser, sich auch mal mit dem zufriedenzugeben, was da ist oder gar noch einen Schritt weiter zu gehen und Verzicht zu üben?

Ich erinnere mich an den Besuch in einem mittelständischen Betrieb vor einigen Jahren: Vom Geschäftsführer kurz nach dessen Ausbildung gegründet, stand das Unternehmen nun vor der Übergabe an den Nachwuchs. Die Infrastruktur des Betriebs hatte sich seit der Gründung vor dreißig Jahren praktisch nicht verändert: Kundenstamm, Mitarbeiter, selbst Prozesse (etwa die faxbasierte Auftragsannahme) – alles war wie früher geblieben. Die Devise des Seniorchefs lautete: Es ist gut so, wie es ist. Der Laden läuft. Wir müssen nichts ändern. Wir müssen nicht wachsen. Mich ergriff nach einigen Minuten im Gespräch ein beklemmendes Gefühl. Auch der Nachfolger hatte schnell bemerkt, dass er mit der vorhandenen Unternehmenssubstanz nicht mehr viel bewirken konnte. Die Produktpalette war seit 20 Jahren unangetastet. Es wurde offensichtlich, dass mit dem Gründer auch die Kunden alt geworden waren. Und so wie der Gründer abtrat, würden es auch bald die Kunden tun. Schließlich kam es, wie es kommen musste: Kurz nach der Übergabe meldete der neue Eigentümer Insolvenz an. Was lernen wir daraus? In einer Welt, in der sich Anforderungen, Normen und Gesetze ständig ändern, müssen sich auch Produkte und Prozesse stetig anpassen und weiterentwickeln. In einer Umgebung, die im Jahr 2020 den Geist der 1970er Jahre atmet, kann nichts Neues entstehen. Ohne Wandel kein Wachstum.

Wandel ist aber kein Selbstzweck. Um wirksam zu sein, müssen Veränderungen immer auf eine Verbesserung ausgerichtet sein. Auf mehr Effizienz, höhere Qualität, bessere Befriedigung von Kundenbedürfnissen – die Liste ist lang. All das kann man auch über Verzicht erreichen. Es kommt aber darauf an, auf das richtige zu verzichten. Wenn ein Unternehmen gezielt auf Umsätze mit Kunden verzichtet, die in Summe mehr Ärger machen als Geld bringen, ist das ein gutes Beispiel. Auch das Lean Management sucht stets nach Lösungen, die das Unternehmen von Ballast befreien. So paradox es auch klingt: Damit schafft man die Voraussetzung für Wachstum. Zwar kann man mit Verzicht an sich keine Mitarbeiter motivieren, keine Kunden begeistern und auch keine Lieferantenbeziehungen verbessern. Mit einer Vision für eine bessere Zukunft, die sich aus diesem Verzicht ergibt, aber schon. Diese muss klar aufzeigen, dass der Verzicht an der richtigen Stelle langfristig zu einem besseren Ergebnis für alle führt. Wenn ein Unternehmen in seiner Gesamtheit also die Einstellung verinnerlicht, Dinge kontinuierlich verbessern zu wollen, dann stellt sich langfristig Wachstum ganz automatisch ein. So wie wir – wahrscheinlich unbewusst – immer die ganz oben wachsende Kirsche ernten wollen, so sollten wir auch im Unternehmenskontext immer nach den Sternen greifen. Denn eines zeigt das Beispiel des Unternehmens, das den Wechsel in eine neue Generation nicht überlebt hat, sehr deutlich: Das Gegenteil von Wachstum ist nicht Stagnation, sondern Exitus.